Es gibt kaum eine Sozialwissenschaft, die so stark unter Generalverdacht steht wie die Wirtschaftswissenschaft. Wann immer eine Ökonomin oder ein Ökonom sich öffentlich äussert, kommt sehr schnell die Antwort: alles nur Hokuspokus, neoliberales Geschwätz, Vernebelung der wahren Interessen etc. Wenn Politologinnen oder Psychologen sich äussern, mag man sich auch aufregen, aber der Energiepegel ist deutlich tiefer. So ist zumindest mein Eindruck.
Warum weckt die Wirtschaftswissenschaft so starke Emotionen? Mein Eindruck ist, dass die heftige Reaktion hauptsächlich auf Missverständnissen beruht. Mir kommen gleich drei in den Sinn.
1. Missverständnis: Ökonominnen und Ökonomen bestimmen die Wirtschaftspolitik.
Viele glauben, die ökonomische Wissenschaft habe einen besonders starken Einfluss auf die Wirtschaftspolitik. Typisch war etwa die Berichterstattung zur Sparpolitik während der Finanzkrise. Nicht wenige Journalisten behaupteten, dass die Politiker sklavisch den Rat von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff befolgt hätten. Reinhart und Rogoff kamen in einem Aufsatz zum Resultat, dass das Wirtschaftswachstum sich verlangsame, sobald die Staatsverschuldung über die Schwelle von 90 Prozent des BIP springe. Als dann bekannt wurde, dass die zugrundeliegenden Daten teilweise falsch codiert waren, konnte man bald die folgende Schlagzeile lesen: “Excel-Panne stellt Europas Sparpolitik in Frage“.
Wer sich nur ein bisschen mit der Geschichte der Wirtschaftspolitik auseinandergesetzt hat, weiss, dass diese Sicht die Macht der Ökonomen kolossal überschätzt. Die Politik wartet in der Regel nicht auf die Ergebnisse der Wissenschaft, sondern verwendet diejenigen Studien, die das eigene Vorhaben unterstützen, und davon gibt es immer einige.
Der Euro zum Beispiel wurde eingeführt, obwohl viele Ökonominnen und Ökonomen davor gewarnt haben. Da es aber auch befürwortende Stimmen aus der Wissenschaft gab, stützte sich die Politik entsprechend auf die positiven Gutachten.
Trotz überwältigender Evidenz bringt man aber die Vorstellung der übermächtigen ökonomischen Wissenschaft nicht weg. Warum?
Es mag damit zusammenhängen, dass einige ihrer Vertreter in der Öffentlichkeit bisweilen gar selbstbewusst auftreten. Sie tun so, als ob sie die Zukunft voraussehen könnten. Auch sind einige namhafte Wirtschaftswissenschaftler in einflussreiche Positionen gelangt, etwa bei den Zentralbanken. Ben Bernanke hatte in der Tat grosse Macht.
Ganz überzeugend ist diese Erklärung allerdings nicht. Auch andere Expertinnen und Experten überschätzen sich in der Öffentlichkeit, auch andere ausgebildete Wissenschaftler sind in gewissen Führungspositionen übervertreten. Die Anzahl von Juristinnen und Juristen in der Schweizer Politik ist erdrückend. Niemand würde aber daraus einen Vorwurf an die Rechtswissenschaft ableiten.
2. Missverständnis: Die ökonomischen Modelle bilden die Realität ab.
Die Standardkritik an der Wirtschaftswissenschaft ist, dass sie auf einem falschen Menschenbild aufbaue. Der Homo oeconomicus, der gut informiert sei und permanent seinen eigenen Nutzen maximiere, existiere nicht. Also seien auch alle Theorien, die darauf aufbauen würden, falsch.
Wiederum handelt es sich um ein Missverständnis. Kein Lehrbuch behauptet, dass der Homo oeconomicus tatsächlich existiert. Es handelt sich um eine Arbeitshypothese, um die Welt besser zu verstehen, und in vielen Fällen kommt man mit dieser Arbeitshypothese sehr weit. Entsprechend ist der Vorwurf, das ganze Theoriegebäude falsch, völlig überzogen. Die Modelle beleuchten immer nur ausgewählte Zusammenhänge. Die Vereinfachung und Formalisierung erlauben es, dass die Argumente klar formuliert und überprüft werden können.
Dani Rodrik nennt in seinem neusten Buch eine grosse Zahl von Beispielen, die zeigen, wie ökonomische Modelle zu einer besseren Lösung beigetragen haben. Rodrik nennt etwa das Währungssystem von Bretton Woods, das zwei Ökonomen, William Dexter White und John Maynard Keynes, im Jahr 1944 entwickelten. Es hat gut funktioniert, es ermöglichte den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich hatte das System auch grosse Schwächen, und zu Beginn der 1970er Jahre ist es schliesslich zusammengebrochen, weil die inneren Widersprüche zu gross geworden waren. Aber im Unterschied zum Goldstandard und der Europäischen Währungsunion liess es Abwertungen zu, was dazu beigetragen hat, dass zwischen 1944 und 1973 keine Depression auftrat. Das ist eine grosse Leistung der ökonomischen Theorie.
Natürlich ist auch die ökonomische Wissenschaft nicht ganz unschuldig am beschriebenen Missverständnis. Bisweilen wird zu wenig klar gemacht, wo die Grenzen eines Modells liegen. Gerade bei Konjunkturprognosen würde man sich mehr Ehrlichkeit wünschen. Sonst verkommt die ganze Modellbastelei tatsächlich zum Hokuspokus.
3. Missverständnis: Das Leben ist vollkommen ökonomisiert.
Ein drittes Missverständnis entspringt dem weit verbreiteten Gefühl, das Leben sei nur noch etwas wert, wenn es gemessen und in Geld ausgedrückt werden kann. Alles sei ökonomisiert, und daran seien natürlich die Ökonomen schuld. Wer sonst?
Dieser Vorwurf ist zu kurzfristig gedacht. Es gab wohl keine Epoche in der europäischen Geschichte, in der die Befreiung von ökonomischen Zwängen so weit fortgeschritten war wie heute. Auch das Ausmass der Versicherungen gegen materielle Not ist beispiellos, wenn wir mit früheren Zeiten vergleichen. Man muss heute nicht jeden Morgen überlegen, wie man sein materielles Überleben sichern kann. Der Wohlfahrtstaat hat zu einer enormen Entspannung des täglichen Lebens geführt. Vielen ist das nicht mehr bewusst.
Was stimmt, ist hingegen, dass ökonomische Begriffe immer mehr in die Alltagssprache eingeflossen sind. Insbesondere die staatlichen Behörden benutzen zunehmend Begriffe aus den Wirtschaftswissenschaften, um ihre Entscheidungen besser begründen zu können. Man redet nicht mehr von der Verwaltungskunst, sondern vom New Public Management.
Aber ist das ein Beleg für eine unaufhaltsame Ökonomisierung des Lebens? Gerade beim Staat ist in vielen Bereichen eher eine Tendenz zu ganz und gar unökonomischen Lösungen zu beobachten. Mit wirtschaftswissenschaftlichen Floskeln wird die Tatsache vernebelt, dass der Staat in erster Linie die bürokratische Kontrolle ausweitet – wie eh und je. Wenn das ökonomische Lehrbuch zum Zuge käme, gäbe es wohl mehr Freiräume.
Der Beitrag Ökonomen unter Generalverdacht erschien zuerst auf Never Mind the Markets.