Wenn man das Pro-Kopf-Einkommen der europäischen Länder vergleicht, zeigen sich markante Unterschiede. In Bulgarien zum Beispiel betrug 2015 das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 8130 Dollar, in Portugal 22’687 Dollar und in Norwegen 101’022 Dollar.
Ein Unterschied ist besonders frappant, nämlich derjenige zwischen Ost- und Westeuropa. Im Osten ist das Pro-Kopf-Einkommen in keinem Land über 20’000 Dollar, im Westen hingegen überall. Die Karte zeigt diesen Umstand auf einen Blick: Im Osten ist alles gelb, im Westen fast alles rot.
(Quelle: Die Daten stammen vom IWF. Sie sind auf Dollar umgerechnet, um sie international vergleichbar zu machen. Sie berücksichtigen nicht nur den Wechselkurs, sondern auch die Kaufkraft in den einzelnen Ländern.)
Wie lässt sich das frappante Ost-West-Gefälle erklären? Die Frage ist nicht nur von akademischem Interesse. Es geht auch darum, eine realistische Prognose zu entwickeln. Wird der Osten seinen Abstand zum Westen bald verkürzen können oder wird sich am Gefälle in absehbarer Zukunft kaum etwas verändern?
Aufschwung der Städte
Wenn man das Alter des Gefälles zum Massstab nimmt, ist die zweite Ansicht plausibler. Bereits im Hochmittelalter war der Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa sehr deutlich. Der Westen befand sich damals inmitten einer wirtschaftlichen Blüte, was sich insbesondere im Aufschwung der Städte niederschlug. Im Osten tat sich verhältnismässig wenig. Die Wirtschaft blieb agrarisch geprägt. Es gab nur wenige Handelszentren.
Die Karte zeigt die Intensität der westeuropäischen Handelsnetze und die relative Leere im Osten.
In Westeuropa hatte der Aufschwung des Handels auch vorteilhafte institutionelle Folgen. Im Westen verhalfen die Städte zu neuen Formen der politischen Selbstorganisation, im Osten blieb der Grossgrundbesitz dominierend. Im Westen kam es bereits im Spätmittelalter zu einer ersten Welle der Bauernbefreiung, weil die Städte als Zufluchtsort dienten («Stadtluft macht frei»), während im Osten die Leibeigenschaft verschärft wurde. Russland zum Beispiel hob sie erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf.
Die sowjetische Dominanz
Auch im 20. Jahrhundert waren die Unterschiede frappant. In der Zwischenkriegszeit verwandelten sich alle osteuropäischen Länder innert weniger Jahre von Demokratien in autoritäre Regimes, mit Ausnahme der Tschechoslowakei. Der Zweite Weltkrieg war im Osten viel verheerender als im Westen. Danach folgte die Zeit der sowjetischen Dominanz bis 1989. Kein Wunder, ist die demokratische Tradition bis heute relativ schwach und gefährdet.
Osteuropa hat seit Jahrhunderten eine fundamental andere Geschichte. Deshalb ist es wohl realistischer zu hoffen, dass sich das Gefälle nicht vergrössert, als eine baldige Konvergenz mit Westeuropa zu erwarten.
Der Beitrag Warum Ost und West so unterschiedlich sind erschien zuerst auf Never Mind the Markets.