Mit grossem Staunen haben liberale Beobachter das Ergebnis der Energie-Abstimmung zur Kenntnis genommen. Wie kann es sein, dass ein wirtschaftsfreundliches Land wie die Schweiz plötzlich einer planwirtschaftlichen Vorlage zustimmt?
Ein Grund für die klare Zustimmung war, dass das Energiegesetz grosszügig Subventionen verteilt. Wenn ein grosser Teil des Gewerbes und der Bauwirtschaft profitiert, ist die Abstimmung schon halb gewonnen. Die Tabelle zeigt: Der zweite Sektor hat rund eine Million Beschäftigte – davon sind allein im Baugewerbe (41 + 42 und 43) über 300’000 Personen beschäftigt. Das hat politisch grosses Gewicht, vor allem in den Wirtschaftsverbänden.
Die Subventionsanreize erklären allerdings nicht alles. Vielmehr muss man sich fragen, ob es richtig ist, die Schweiz als ein generell liberales und marktfreundliches Land zu sehen. Es stimmt zwar, dass die Regulierung traditionell zurückhaltend war und die helvetische Gesetzesdichte erst in letzter Zeit den europäischen Durchschnitt erreicht hat. Aber war dies wirklich Ausdruck einer liberalen Grundhaltung?
Man könnte es nämlich auch folgendermassen sehen: Der traditionelle Regulierungsansatz war konservativ-liberal, nicht wirklich liberal, d.h. die Schweiz regulierte nur dann, wenn es wirklich nötig war, weil es in einer direkten Demokratie aufwendig und riskant ist, ein Gesetz durchzubringen. Es gibt zu viele Vetogruppen, die mitreden wollen, sodass am Schluss eine optimale Regulierung unmöglich ist. Also liess man es traditionellerweise lieber sein, als etwas zu tun. Das Ergebnis war liberal, aber nicht das Motiv.
Zweitens hat die Mehrheit schon vor 1914 einen starken Einfluss des Staats in der Wirtschaft keineswegs abgelehnt. Im Gegenteil, an der Urne wurde beschlossen, die Eisenbahnen zu verstaatlichen, eine Nationalbank zu gründen (mit einer Mehrheit in den Händen der Kantone), eine staatliche Unfallversicherung (Suva) ins Leben zu rufen. Post und Telegrafie, später auch die Telefonie waren in den Händen des Bundes. Die Kantone gründeten seit den 1830er-Jahren Staatsbanken. Und der Energiesektor war schon immer eng mit dem Staat verbunden. Ein Sitz im Verwaltungsrat einer Elektrizitätsgesellschaft gehört seit Jahrzehnten zu den Pfründen, die an ehemalige Politikerinnen und Politiker vergeben werden.
Was sich demnach in letzter Zeit geändert hat, ist nicht so sehr die Mentalität der Stimmbürger, sondern das regulatorische Umfeld. Während früher die Schweiz selbstständig entscheiden konnte, ob ein Gesetz nötig war oder nicht, läuft die Regulierungsmaschinerie heute von selber. Die Schweiz kann nur noch die Feinabstimmung bestimmen. Und weil es ein liberales Schweizer Gen nie wirklich gegeben hat, gibt es hier auch kaum Widerstand durch die gewählten politischen Behörden.
Der Vergleich mit Grossbritannien ist aufschlussreich. Dort besteht tatsächlich eine starke liberale Tradition, die wichtig war für den Thatcherismus und einen Teil der Brexit-Bewegung innerhalb der Konservativen Partei. Dafür ist das Land nicht besonders demokratisch und lässt ein hohes Mass an Ungleichheit zu. Bei uns ist der Widerstand gegen die EU eher demokratisch begründet, und Ungleichheit wird zwar auch in der Schweiz akzeptiert, aber nie im vergleichbaren Mass wie in Grossbritannien.
Der Beitrag Wie liberal ist die Schweiz? erschien zuerst auf Never Mind the Markets.