Im Jahr 1820 machte die chinesische Wirtschaft ein Drittel der globalen Wertschöpfung aus, hundert Jahre später nur ein paar Prozentpunkte, heute bereits wieder fünfzehn Prozent. Die alte Ordnung, die vor der industriellen Revolution vorherrschte, wird langsam wiederhergestellt.
Warum wurde China vom Westen überhaupt je abgehängt? Das ist eine alte Debatte. Bereits Adam Smith glaubte feststellen zu können, dass die chinesische Wirtschaft seit längerem an Dynamik verloren hatte. 1776 schrieb er in seinem Buch „The Wealth of Nations“ (Book 1, Chapter 8):
China has been long one of the richest, that is, one of the most fertile, best cultivated, most industrious, and most populous countries in world. It seems, however, to have been long stationary.
In der wirtschaftshistorischen Forschung hat die California School eine Zeit lang die Debatte dominiert. Die Schule heisst so, weil die meisten ihrer Verfechter (Kenneth Pomeranz, Roy Bin Wong, Andre Gunder Frank and Jack Goldstone) an kalifornischen Universitäten lehren und forschen.
Gemäss dieser Schule waren zwei Gründe für Chinas temporären Abstieg ausschlaggebend: Glück und Aggressivität. Glück, weil die Kohlevorkommen in England viel leichter abzubauen waren als in China, und Aggressivität, weil England mit besonderer Konsequenz ein Kolonialreich aufgebaut hatte. Das erlaubte dem imperialen Inselstaat den Import von Rohstoffen und den Export der in Fabriken gefertigten Textilien.
Wenig halten die Kalifornier von Faktoren, die bei uns in der Schule normalerweise gelehrt werden: westliche Wissenschaft und Technik, Aufklärung, Gewaltentrennung, Sicherung der Eigentumsrechte. Aus ihrer Sicht unterschieden sich die wirtschaftlich dynamischen Regionen Chinas, z.B. das Jangtse-Delta, überhaupt nicht von England – eben mit Ausnahme der Kohle und des Kolonialreiches.
Die Erklärung der Kalifornier war eine Zeit lang originell, aber ist mittlerweile nicht mehr populär. Vor allem eine Frage kann sie nicht richtig beantworten: Warum hat China so lange gebraucht, die Europäer aufzuholen, wenn doch die Ausgangslage im 18. Jahrhundert so ähnlich war? Die Chinesen hätten ja nur die Erfindungen der englischen Industrie zu kopieren brauchen, so wie es die Schweizer Unternehmer erfolgreich taten.
Ein neuer Artikel, geschrieben von drei Autoritäten des Feldes, versucht die Gründe der Divergenz und der Konvergenz zwischen Europa und China besser zu erklären. Im Zentrum stehen China und seine Institutionen, nicht die englische Kohle oder das British Empire. Das entspricht einem allgemeinen Trend in den Wirtschaftswissenschaften: Wachstumsblockaden werden eher mit internen Hindernissen als mit äusseren Zwängen erklärt.
Die Erklärung ist unorthodox. Sie zeigt zum einen, wie alte chinesische Institutionen seit langem vorteilhaft wirken, z.B. die Betonung des Leistungsprinzips bei der Rekrutierung der bürokratischen Elite und die auf langfristige Stabilität ausgerichtete Politik. Sie verhalfen China zur starken Stellung in der vorindustriellen Welt.
Zum andern unterstreichen die drei Autoren die Bedeutung der Kommunistischen Partei für den Boom der letzten Jahrzehnte. Mao (1893-1976) sei zweifellos einer der grössten Despoten und Massenmörder des 20. Jahrhunderts gewesen, und die Volksrepublik China sei nach wie vor eine Diktatur, die grobe Menschenrechtsverletzungen sanktioniere. Aber der kommunistische Bruch mit der Vergangenheit habe wichtige Hindernisse aus dem Weg geräumt, die in der Qing-Dynastie (1644 bis 1911) den Übergang zum modernen Wirtschaftswachstum verhindert hätten.
Vier Dinge hätten sich unter den Kommunisten seit 1949 fundamental verändert:
- Begeisterung für industrielles Wachstum
- Verbreiterung der Rekrutierungsbasis der Elite
- Zunahme der staatlichen Leistungsfähigkeit
- Positive Einstellung gegenüber der Globalisierung
Mehr Wohlstand dank Mao? Gegen diese Kurzformel würden sich die Autoren wohl verwehren, aber im Grunde geht es genau darum. Ohne die kommunistische Revolution hätten Chinas Wachstumblockaden weiter bestanden. Vielleicht hätte ein anderes Regime dasselbe Ziel erreicht, aber auch dann wäre der Übergang vermutlich alles anders als friedlich gewesen.
Die These erinnert an die Diskussion um die ostasiatischen Tiger. Auch da gibt es eine unorthodoxe Interpretation, die einem erschauern lässt, aber durchaus plausibel klingt. Demnach sei der Erfolg Südkoreas und Taiwans nur dank dem japanischen Kolonialismus möglich geworden. Die japanischen Besetzer hätten die Grossgrundbesitzer entmachtet und eine Landreform implementiert, womit eine der grössten Wachstumsbarrieren beseitigt worden sei (z.B. Joe Studwell). Katastrophe und Heil liegen in der Geschichte oft nah beieinander.
Der Beitrag Mehr Wohlstand dank Mao? erschien zuerst auf Never Mind the Markets.