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Channel: Tobias Straumann – Never Mind the Markets
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Die grössten Verlierer der Personenfreizügigkeit

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Die Personenfreizügigkeit führt dazu, dass es vor allem in ländlichen Gebieten Osteuropas einen grossen Mangel an Fachpersonal gibt: In einem polnischen Dorf. Foto: Ilana Tamir (Flickr)

Grossbritannien und die Schweiz stehen in der Kritik, weil sie die Personenfreizügigkeit einschränken wollen. Man könne nicht beides haben, Zugang zum Binnenmarkt und Sonderkonditionen bei der Einwanderung, heisst es. Vor allem der Schweiz wird diesbezüglich vorgehalten, sie sei eine Rosinenpickerin.

Wenn alles so eindeutig wäre. Es mag für die EU inakzeptabel sein, dass die Schweiz die Personenfreizügigkeit neu verhandeln möchte. Aber der Vorwurf der Rosinenpickerei greift zu kurz.

Erstens arbeiten alle EU-Länder permanent daran, möglichst gute Konditionen für sich herauszuholen. Das gehört zum Spiel, Brüssel ist ein Basar. Und wenn man die Geschichte der EU anschaut, sieht man, dass immer wieder Kompromisse gemacht wurden. Ohne Flexibilität wäre die EU längst auseinandergebrochen. Zum Beispiel: Frankreich und Italien werden voraussichtlich 2015 ein höheres Budgetdefizit, als der Fiskalpakt erlaubt, zulassen. Am Anfang gab es grosse Empörung in Brüssel, mittlerweile hört man kaum mehr etwas - obwohl der Fiskalpakt zu den tragenden Säulen der Währungsunion gehört.

Zweitens könnte man genauso gut argumentieren, dass die Personenfreizügigkeit die höchste Form der Rosinenpickerei ist. Die Schweiz kann ohne Mühe die besten Leute abwerben, ohne für die Ausbildungskosten aufzukommen. Die Einschränkung der Personenfreizügigkeit müsste deshalb eine gute Nachricht für die Länder sein, die gegenüber der Schweiz einen Nettoauswanderungssaldo haben.

Die privilegierte Position der Schweiz zeigt sich besonders deutlich bei der Einwanderung im Gesundheitsbereich, wie ein neuer Artikel der «Süddeutschen Zeitung» zeigt (hier). Skandinavische Länder und die Schweiz werben deutsches Fachpersonal ab, und Deutschland füllt seine Lücken mit osteuropäischen Ärztinnen und Ärzten. Das Ergebnis ist, dass in Osteuropa ein geradezu dramatischer Personalmangel aufgetreten ist. Vor allem auf dem Land fehlt es an medizinischem Fachpersonal. Anders gesagt: Die grössten Verlierer der Personenfreizügigkeit sind die Emigrationsländer.

Wie die Währungsunion verstärkt also auch die Personenfreizügigkeit die Unterschiede zwischen den europäischen Regionen. Es passiert genau dasselbe, was wir in allen Nationalstaaten in den letzten 150 Jahren beobachten konnten. Die Schweiz ist ein typisches Beispiel. Eine gemeinsame Währung, Niederlassungsfreiheit und Binnenmarkt haben dazu geführt, dass sich das Wirtschaftswachstum immer stärker auf einige wenige Wachstumszentren konzentriert.

Das Binnenmarktprogramm der EU, das anfangs der 1990er Jahren beschlossen wurde, kann man deshalb durchaus als radikales Projekt bezeichnen. Es pflügt nicht nur die europäische Wirtschaft um, sondern definiert auch völlig neue Regeln für den Arbeitsmarkt. Dass nicht alle mit dieser stillen Revolution einverstanden sind, kommt nicht überraschend. Es ist eher überraschend, dass so viele vom wachsenden Widerstand gegen die Personenfreizügigkeit überrascht sind.


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